Sinn und Unsinn der Aufschlagregel

Geschrieben von Florian Keck am .

Man stelle sich einmal vor, 80 bis 90 Prozent aller Profi-Fußballmannschaften und vielleicht ein Viertel der Amateurteams würden regelmäßig und vollkommen absichtlich einen Spieler 15 Meter im Abseits platzieren und auf diese Weise Spiel für Spiel mehrere Tore erzielen, die Anerkennung finden, weil kein Schiedsrichter in der Lage ist, diese extremen Abseitsstellungen zu erkennen. 
Vielleicht einmal im Jahr würden einzelne dieser Mannschaften ermahnt, doch bitte niemanden absichtlich ins Abseits zu stellen. Schon 10 Sekunden später wird jedoch wieder großzügig darüber hinweggesehen, und alle schießen weiter munter Abseitstore. Zu allem Überfluss stelle sich dann noch ein Funktionär hin, der behauptet, 99 % aller Tore seien auf korrekte Weise erzielt worden. Undenkbar, möge man behaupten. Nicht jedoch im Tischtennissport.
 
Die German Open 2018 in Bremen sind gerade zu Ende gegangen. Neben vielen hochklassigen Spielen, insbesondere natürlich dem Vergleich von Ma Long und Timo Boll, ist dem aufmerksamen Beobachter aufgefallen, dass dieses Mal insbesondere im Herrenbereich auffallend viele Aufschläge abgezählt wurden. Wobei der Begriff „viele“ in diesem Zusammenhang etwas überdimensioniert erscheint. Treffender wäre die Aussage, dass überhaupt mal einzelne Aufschläge abgezählt wurden. Diese Tatsache führte zu  vielen Diskussionen an den Tischen und hat den Oberschiedsrichter der German Open, Jörg Baumgart, zu der Aussage verleitet, dass 99% der Schiedsrichterentscheidungen, auch bezüglich der Aufschlagbewertung, korrekt seien. (Quelle: http://www.tischtennis.de/news/referee-joerg-baumgart-von-bremen-nach-alicante.html). 
 
Es ist ein offenkundig, dass die weit überwiegende Mehrheit der Spieler im Profitischtennis nicht regelkonform aufschlägt. Insbesondere das Verdecken der Aufschläge, aber auch der nicht senkrechte Ballwurf, sind weit verbreitete Manipulationsmethoden. Als Beispiele habe ich in zweiminütiger YouTube-Recherche Screenshots vierer Aufschläge der Spieler Fegerl, Källberg, Walther und Calderano gemacht, bei denen der Ball während des Treffpunkts für den Gegner nicht zu sehen ist. Dass es an dieser Stelle überflüssig ist zu erwähnen, dass diese Aufschläge (natürlich) nicht abgezählt wurden, ist einerseits traurig und zeigt andererseits die Absurdität der Aussage von Herrn Baumgart. Über den Daumen gepeilt verstoßen 80 bis 90 Prozent aller Profispieler mit jedem einzelnen Aufschlag grob und bewusst gegen die Aufschlagregeln – und da es höchstens mal in (in dieser Argumentation zu vernachlässigenden) Einzelfällen zum Abzählen kommt, sind demnach 80 bis 90 Prozent der Schiedsrichterentscheidungen falsch.
 
Soweit die Situation im Profitischtennis – im Amateurtischtennis, wo nur in den seltensten Fällen Schiedsrichter am Tisch zum Einsatz kommen, muss zwangsläufig jeder Aufschlag des Gegners hingenommen werden. Glücklicherweise ist die Quote der Aufschlagbetrüger bei uns in der Regionalliga und in den Ligen darunter längst nicht so hoch wie im Profibereich, dennoch gab und gibt es auch immer einzelne Spieler, die sich durch verbotene Aufschläge einen Vorteil verschaffen. Man lernt mit den Jahren, dass es zwecklos ist, sich darüber aufzuregen. Dennoch ist die Situation absurd – mir fällt keine andere Sportart ein, in der man sich auf verbotene Weise einen derart großen Vorteil verschaffen kann, ohne jegliche Konsequenzen fürchten zu müssen. 
 
Doch wie könnte das Problem gelöst werden? Fest steht, dass das Schiedsrichterwesen mit der Durchsetzung der aktuellen Regeln völlig überfordert ist. Wenn selbst hochdekorierte internationale „Top-Schiedsrichter“ diese Regeln derzeit nicht einmal im Ansatz durchsetzen können, ist klar, dass dies einem einfachen Kreisschiedsrichter noch viel weniger zuzutrauen ist. Und bei der ganz überwiegenden Mehrheit der Tischtennisspiele ist ohnehin kein Schiedsrichter anwesend, der die Regeln zumindest in der Theorie durchsetzen könnte. Es bliebe nur eine Möglichkeit: Man könnte zu den alten Aufschlagregeln zurückkehren, nach denen jeder mehr oder weniger aufschlagen durfte, wie er mochte. Aus meiner Sicht ein durchaus gangbarer Weg. So könnt jeder nach Lust und Laune zu verdecken und mit Winkel hochzuwerfen, ohne ein schlechtes Gewissen haben zu müssen. Und diejenigen, die ohnehin schon so aufschlagen, könnten so weitermachen wie bisher. Dadurch, dass es dazu aber niemals kommen wird, bleibt nur ein sportlicher und freundschaftlicher Appell an alle Tischtennisspieler: Leute, macht vernünftige Aufschläge! 
 
Viele Grüße
Florian Keck
 
 
 
 

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